Eisengewinnung durch Direktreduktion

von Peter Slaby

Finkenwerder heißt das weitläufige Gebiet am Südufer der Elbe, wo die ISPAT Hamburger Stahlwerke seit ca. 30 Jahren ein integriertes Elektrostahl- und Walzwerk betreiben. Anstelle einer Hochofenanlage, wie sie uns von den Stahlküchen an Ruhr und Saar, bei Salzgitter, Eisenhüttenstadt oder Bremen vertraut ist, liefert aber in Hamburg eine sogenannte Direktreduktionsanlage das Roheisen. Statt Steinkohlenkoks kommt hier Erdgas zum Einsatz, das mit Kohlendioxid und Wasserdampf zu einem Prozessgas aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid umgeformt wird um die oxidischen Eisenerze zu Roheisen zu reduzieren. Zwar produziert das Werk ausschließlich Walzdraht von 5,5 bis 14,0 mm Dicke, aber der farbige Firmenprospekt verzichtet nicht darauf ausführlich darzustellen, was die Weiterverarbeiter und HSW-Kunden aus den 1,5 t schweren Drahtrollen unterschiedlicher Stahlqualität letztendlich herstellen: Zaundrähte und Drahtgeflechte, geschweißte Gitter, Einkaufswagen und -körbe, Büro- und Heftklammern sowie Sicherheitsnadeln und Angelhaken, Haushaltssiebe und feine Federn, Baustahlmatten, für den Zaunbau oder zu Bodenverlegungsarbeiten, Gitterkörbe und Gitteraufsatzrahmen, ebenso Betonstahl und Bewehrungsdraht für besondere Anwendungen wie Stahlbetonrohre oder Fertigteile aus Gasbeton nach DIN-Norm, Seile und flexible Wellen, Klavier- und Gitarrensaiten, Schweißdrähte unterschiedlicher Anwendung sowie Schrauben, Muttern und Verbindungselemente - kurzum beinahe alles Stählerne mit irgendwie dünner und länglicher Grundform.

Ein Rundgang durch das Industriegelände führt zunächst zu den Rohstofflagern: Hochwertige Eisenoxiderze als Pellets (kirschgroße Presskugeln aus Erzpulver) und Stückerz (30 mm Körnung) liegen auf großen Halden. Aus Peru, Brasilien, Schweden, Kanada und anderen Ländern werden diese Rohstoffe auf dem Seeweg angeliefert und für die Beschickung des Reduktions-Schachtofens zur konstanten Qualität vermischt. Die Pellets werden teilweise vor Ort gecoatet, d.h. außen mit einer Kalkmilch überzogen, damit sie im Schachtofen nicht verbacken. Von der Steuerwarte aus werden alle Teilvorgänge der Gasumformung und der reduktiven Erzbehandlung kontrolliert. Hier laufen alle Messdaten über Druck, Temperatur, Zusammensetzung des Gases und Durchsatz zusammen.
75000 kg Reformgas werden stündlich aus dem Erdgas und dem kohlendioxidreichen Gichtgas erzeugt. Dies geschieht in 25cm-weiten und knapp 10 m langen "Katalyt"-Rohren aus hochwertigem Cr-Ni-Stahl, in denen eine Schüttung aus groben Al2O3-Körnern mit Ni die katalytisch wirksame Oberfläche bildet. Ein Teil des Erdgases wird verbrannt, und ein ausgeklügeltes System von Wärmetauschern zurückgewonnene Energie sorgen für die richtige Prozesstemperatur. Zwei Reaktionen laufen nebeneinander ab:

CH4  +   H2O  >  CO  +  3 H2
CH4  +  CO2  >  2 CO  +  2 H2
Dieses Gasgemisch wandelt nun im Schachtofen in jeder Stunde ca. 50 t der oxidischen Eisenerze in "Eisenschwamm" um. Das stumpf-graue Produkt trägt seinen Namen wegen der Poren und Schrumpfrisse, die durch den Verlust an Sauerstoff entstehen:
Fe2O3  +  3 CO  >  2 Fe  +  3 CO2
Fe2O3  +  3 H2  >  2 Fe  +  3 H2O
Diese Direktreduktion mit der vorgeschalteten Gasumformung arbeitet kontinuierlich, kann aber - im Gegensatz zum Hochofenprozeß - in recht kurzer Zeit "heruntergefahren" werden und in Bezug auf die produzierten Mengen gesteuert werden. Auch wird die 2000 °C Temperaturmarke der Hochofentechnik bei weitem nicht erreicht, bei ca. 1000 °C bleibt das Erz (Edukt) und der Eisenschwamm (Produkt) in fester Form, eine Schlacke entsteht hier noch nicht.
Im unteren Teil des Schachtofens muss das Produkt auf die Umgebungstemperatur herunter gekühlt werden um eine nachträgliche Oxidation zu verhindern, bevor es dann in großen Vorratssilos zwischengelagert wird.

Der nächste Verarbeitungsschritt findet im Stahlwerk statt. Hier mutet alles gigantisch an, und den Sinnen des Besuchers wird Enormes abverlangt. Gerade wird der Elektrolichtbogen offen mit Stahlschrott und Eisenschwamm befüllt, dazu ist der Deckel mit den 3 langen Kohleelektroden seitlich weggeschwenkt und gibt einen kurzen Einblick in das rot-orange glühende Schmelzgefäß mit beinahe 7 m Durchmesser frei. Bis zu 50% Stahlschrott von unterschiedlichster Zusammensetzung werden in den Prozess eingeschleust. Ist die Lärmentwicklung beim Chargieren für unsere Ohren trotz Gehörschutz schon unerträglich, so steigert sich alles noch einmal zu einem infernalischen Knallen, Donnern und Tosen, als die abgesenkten Elektroden mit 83 MW den Lichtbogen zünden. Jetzt steigt auch unter zuckenden Blitzen und Funkensprühen Qualm und Rauch bis unter das Hallendach auf - verbrennende Begleitstoffe des Stahlschrottes wie Kunststoffe, Lacke, Fette und Öl. Große Absauganlagen führen das alles der Abgasreinigung zu, bevor es über den Schlot in die Hamburger Luft entlassen wird.
Schnell ist der Stahl unter dem Lichtbogen zu einer 1900 °C heißen homogenen Flüssigkeit geschmolzen, auf der sich durch Zusatz von Kalk und Quarz die spezifisch leichtere Schlacke bildet. Zum "Abstich" wird der ganze Lichtbogenofen geneigt: Große Gießpfannen transportieren nach dem Abgießen der Schlacke den Rohstahl in den Pfannenofen, wo er chargenweise auf die vom Kunden gewünschte Qualität durch dosierte Zugabe von Legierungszuschlägen eingestellt wird. Mit extrem niedrigen Kohlenstoff-Gehalten sowie Chrom- und Nickel-Gehalten unter 0,08% werden sogenannte "extra weiche Ziehgüten" (Heftklammern), mit geringem Aluminiumanteil von 0,025 bis 0,05% sogenannte "Kaltstauchgüten" (Schrauben und Muttern) und mit Kohlenstoffgehalten von 0,66 bis 0,88% sogenannte "mikrolegierte Härtegüten" (Klaviersaiten) produziert, um nur einige Beispiele aus der Angebotspalette von über 160 Stahlqualitäten zu benennen. Aus dem Pfannenofen wird der fertige Stahl zunächst zu "Knüppelhalbzeug" im Strang vergossen, immer 6 Knüppel gleichzeitig mit je 14 m Länge und 1,5 t Gewicht. Unzählige dieser schlanken grauen Stahlblöcke warten - sorgfältig gestapelt und chargenweise farbig markiert - auf den letzten Verarbeitungsschritt, das Durchlaufen der Walzstraße.
Im Herdofen zur Rotglut erhitzt durchläuft der Stahl eine lange Strecke von Walzgerüsten, die den Vierkantblock zu Runddraht von 5,5 bis 14 mm auswalzen, der mit unglaublich hoher Geschwindigkeit aus dem Ende der Anlage herausschießt, automatisch aufgewickelt und zu Coils abgebunden wird.
Fast 2700 dieser Draht-Coils verlassen täglich per LKW oder auch per Schiff das Werksgelände. Alles ist bestellte und mit dem Kunden in der Stahlspezifikation genau ausgehandelte Ware - sofortige Verfügbarkeit und Ankunft beim Kunden "just in time" heißen die ökonomischen Zielvorgaben.
Am Lagerplatz der Drahtrollen, gleich neben dem Hafenbecken endet für den Besucher der eindrucksvolle Rundgang. Er mag die nächste Büroklammer, die ihm in die Finger gerät, mit etwas mehr Respekt betrachten ...